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Wir alle müssen geduldig sein!

Statement zur Corona-Krise von unserem Ehrensenator Prof. Dr. Jürgen Rüttgers, Ministerpräsident a.D. und Bundesminister a.D. mit Focus auf staatsrechtliche Aspekte und Europa.

Jürgen Rüttgers war Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen und Bundesminister für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie. Er arbeitet als Anwalt in der Rechtsanwaltsgesellschaft Beiten Burkhardt und als Professor am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Universität Bonn. Die Europäische Kommission berief ihn von 09.2017 bis 09.2018 zum Vorsitzenden der Independent High Level Strategy Group on Industrial Technologies und von 10.2018 bis 11.2019 zum Sonderberater der EU-Kommission.

In einigen Jahren werden Historiker und Journalisten ein Urteil darüber fällen, wie die Staaten dieser Welt mit der Corona-Pandemie umgegangen sind. Haben die Regierungen rechtzeitig reagiert oder haben sie die Macht dieser weltweiten Seuche unterschätzt? In welchem Land sind viele Bürgerinnen und Bürger gestorben? Waren die Krankenhäuser auf solche Infektionskrankheiten vorbereitet? Wurden die Ärzte und Pfleger ausreichend geschützt? Warum gab es keine Medikamente und Impfstoffe, obwohl Bill Gates schon lange vor Pandemien gewarnt hatte? Man kann solche Fragen endlos stellen.

Dabei ist offensichtlich, dass es noch keine Pandemie dieses Typs gegeben hat. Es ist zu früh, über Schuld und Verantwortung zu streiten. Wichtig ist, das zu tun, was wir tun können. Wir alle müssen uns auf die Ärzte und Pfleger verlassen. Nur sie können uns jetzt helfen, wenn wir durch das Virus angesteckt werden. Und jeder von uns muss seinen Beitrag leisten, um die Ansteckungsgefahr zu minimieren. Das tun wir, um uns zu schützen und die medizinische Hilfe in den Krankenhäusern für Infizierte zu ermöglichen.

Jeder von uns weiß, dass nach der Pandemie nichts mehr so sein wird wie vorher. Natürlich können Bürger, Wissenschaftler, Politiker u. s. w. darüber nachdenken, wie die Welt in Zukunft aussehen wird. Manche Entscheidungen, die wir in diesen Tagen zur Bekämpfung der Pandemie getroffen haben und noch treffen werden, werden unsere Demokratie, unsere Wirtschaft und unsere Zivilgesellschaft prägen. Für zentrale Entscheidungen kann man das schon heute feststellen.

Wer die täglichen Statistiken über die aktuell Erkrankten, die Genesenen und die Verstorbenen, die Zahlen der angesteckten Ärzte und Krankenpfleger, der verstorbenen Priester und der Altenpfleger vergleicht, sieht, dass die behandelnden Ärzte in eine schwer zu ertragende Entscheidungssituation kommen, wenn nicht genug Betten und Beatmungsgeräte zur Verfügung stehen. Bis heute gibt es in Deutschland genügend Behandlungsmöglichkeiten. Wir können stolz darauf sein, dass nach einer kurzen öffentlichen Debatte klar war, dass alle Erkrankten, gleich ob alt oder jung, ob arm oder reich, ob Inländer oder Ausländer ein Recht auf Hilfe zusteht. Wie heißt es in Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Deshalb wurde die Anzahl der zur Verfügung stehenden Betten überall im Land erhöht, ausgemusterte Beatmungsgeräte reaktiviert und in einer bürgerschaftlichen Hilfsaktion von Mundschutz bis zum Plexiglas-Schutz für die Kassiererin und den Kassierer an der Supermarktkasse gesorgt. Deutschland ist gut ausgestattet, wie die New York Times bewundernd feststellt.

Das zweite, das jeder in allen Medien miterleben kann, ist eine große Welle der Solidarität in der deutschen Zivilgesellschaft. Die große Mehrheit der Deutschen will helfen. Schwerkranke Patienten aus europäischen Nachbarländern werden bei uns aufgenommen und behandelt. Nach einigen Hamsterkäufen in den Anfangstagen der Kontaktsperre haben sich die Ängste gelegt und die Regale wieder gefüllt. Auch die anfänglichen Corona-Partys haben aufgehört. Die Einschränkungen der Politik werden von der Bevölkerung akzeptiert und eingehalten.

Ein großes Problem ist und bleibt aber die demokratische Legitimation der Beschlüsse auf Bundes-, Landes- und Kommunalebene. Zum Teil ohne intensive Debatte wurden massive Einschränkungen der Grundrechte beschlossen. Das betrifft sowohl die „Freiheit der Person“, die „unverletzlich“ ist (Art. 2 Abs. 2 GG), als auch die „ungestörte Religionsausübung“ (Art. 4 Abs. 1, 2 GG). Die Freiheit der Meinung, Kunst und Wissenschaft (Art. 5 GG) ist nicht rechtlich, aber tatsächlich durch die Schließung von Museen, Theatern, Opern sowie Kinos eingeschränkt.

Gleiches gilt für die Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG) sowie die Freizügigkeit (Art. 11 GG). Auch die Grundrechte der Bildung und Ausbildung sind durch die Schließung der Schulen und Hochschulen zum Teil außer Kraft gesetzt.

Nun besteht kein Zweifel, dass die große Mehrheit der Bürger die bisherige Politik unterstützt. Das Verhalten anderer EU-Mitgliedsländer wie Ungarn und Polen zeigt, dass populistische Regierungen die Krise nutzen, die demokratischen Rechte einzuschränken, ja sogar abzubauen.

Auch die soziale Marktwirtschaft, die durch die europäischen Verfassungsverträge und Art. 20 Abs. 1 GG geschützt wird, ist durch die Pandemie und die Billionen Euro neuer Schulden stark unter Druck geraten.

Hier zeigt sich, dass die jetzt erlassenen Gesetze nach Ende der Pandemie überprüft und die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger wiederhergestellt werden müssen.

Da die hohe Verschuldung auf allen staatlichen Ebenen zurückgefahren werden muss, wird die in allen EU-Mitgliedstaaten zu erwartende Rezession eine große Herausforderung sein. Für die Bundesrepublik wird die Herausforderung beherrschbar bleiben. Durch eine konsequente Sparpolitik („Schwarze Null“) hat Deutschland einen großen Spielraum erarbeitet, den betroffenen Firmen und Arbeitnehmern zu helfen. Einen moralischen Anspruch haben auch EU-Staaten wie z. B. Spanien, Italien und Portugal auf unsere europäische Solidarität. Obwohl die Europäische Union im Gesundheitswesen keine verfassungsrechtlichen Kompetenzen hat, muss sowohl von Brüssel wie auch von Berlin geholfen werden. Statt zu helfen, verhakt sich Berlin in alte Debatten über Eurobonds.

Der Aufbau neuer Grenzkontrollen innerhalb der Europäischen Union zeigt demgegenüber eine falsche Grundeinstellung in Berlin. Zuerst hat man mit deutscher Zustimmung verhindert, dass mit Frontex eine funktionierende Sicherung der Außengrenzen erfolgt. Jetzt entstehen Hunderte von Kilometern an LKW-Staus an den innereuropäischen Grenzen, die zwangsläufig die Wertschöpfungsketten in Europa zerstören bzw. behindern und damit die Rezession fördern. Innereuropäische Grenzen sind nicht nur schädlich. Sie sind auch wirkungslos und schaden allen Mitgliedsstaaten.

Unsere Zukunft liegt in Europa. Deshalb muss die Bundesregierung ihre Präsidentschaft des EU-Rates in der zweiten Jahreshälfte 2020 dazu nutzen, einen großen Schritt nach vorne zur weiteren Einigung Europas zu machen. Das vereinte Europa ist als dritte freie, soziale und rechtsstaatliche Weltwirtschaftsmacht in der Lage, seine Interessen gegenüber den USA und China durchzusetzen.

Download:

Statement von Prof. Dr. Jürgen Rüttgers

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